Bildung in Indien

„Lasst mich in die Schule gehen“


„Die Mädchen in meinem Land wollen in die Schule gehen, aber viele Eltern lassen sie nicht. Sie sollen zu Hause arbeiten und am besten mit elf, zwölf Jahren heiraten. Warum sollen sie dann etwas lernen?“ Congress Kanwar spricht konzentriert und schnell. Ihre braunen Augen blitzen.
Congress  berichtet von ihrem schwierigen Kampf um Bildung und Selbstbewusstsein, ihrem Traum von einem selbst bestimmten Leben. Sie möchte, dass es andere Mädchen in ihrer Heimat einmal leichter haben.
Congress Kanwar lebt in dem kleinen Dorf Patlai im Distrikt Jahlawar, einer der ärmsten Regionen im indischen Bundesstaat Rajasthan. Ihr Zuhause ist eine einfache, weiß gekalkte Lehmhütte. Sie ist die jüngste unter sieben Geschwistern, sie hat drei Brüder und drei Schwestern. Es gibt zwar mittlerweile ein Radio im Dorf. Aber die meisten Menschen sind sehr arm. Weniger als 20 Prozent der Frauen können lesen und schreiben.
„Als meine drei Schwestern so alt waren wie ich jetzt, waren sie schon lange verheiratet“, erzählt Congress. Auch Ihr Leben schien vorgezeichnet. Sie lernte, sich um das Vieh zu kümmern, kochen und den Haushalt führen. Congress weinte, als sie erlebte, wie ihr Vater ihren Bruder zur Schule schickte und auch eine Freundin aus der Nachbarschaft eingeschult
wurde. Sie bettelte darum, mitzugehen. Doch ihre Eltern fürchteten, dass sie dann ihre Pflichten vernachlässigen würde. Auch würde sie später keine gute Ehefrau mehr sein.
Eines Tages,  da war sie elf, eröffnete in der Nähe ein Schulprojekt für Kinder, die nie eingeschult wurden und nun zu alt für die erste Klasse waren. Die Lehrer gingen von Haus zu Haus und versuchten, die Eltern zu überzeugen, ihre Töchter zum Unterricht zu schicken. „Meine Eltern wollten mich erst nicht gehen lassen. Dann habe ich versprochen, dass ich alle meine Aufgaben zu Hause weiter erledige. Schließlich ließen sie mich doch in die Schule.“
Bis zu ihrem elften Lebensjahr Jahren hatte Congress nur wenig mehr als ihre Familie und die engere Nachbarschaft kennen gelernt. Nun lernte sie lesen, schreiben und rechnen, erfuhr, dass Kinder und Erwachsene Rechte haben, die als Gesetze aufgeschrieben sind. Als ihre Klasse vor einigen Monaten eine Polizeistation besuchte, erfuhr sie, dass es eine Notrufnummer gibt, die auch Kinder anrufen können, wenn sie Hilfe brauchen.
„An diesem Tag saßen bei meiner Rückkehr nach Hause, mehrere Männer vor der Tür, die ich nicht kannte. Mein Vater erklärte mir, dass sie hier seien, damit sie mich kennen lernen können. Einer von ihnen sollte mich heiraten“. Congress war entsetzt. „Ich habe gesagt, dass man mit 13 nicht heiraten darf und dass ich die Notrufnummer der Polizei anrufen würde. Da sind die Männer aufgestanden und weggelaufen“.
Congress ist fest entschlossen, gegen alle Widerstände und Zweifel ihren Weg zu gehen. Sie sagt, ihre Eltern hätten jetzt endlich eingesehen, dass es ein Fehler war, sie nicht früher einzuschulen. Später will sie einmal Polizistin werden. „Damit ich zu den Leuten gehen kann, die ihre Töchter früh verheiraten, und dafür sorgen, dass sie bestraft werden.



Der indische Bundesstaat Rajasthan:
Der Bundesstaat Rajasthan mit rund 56,5 Millionen Menschen zählt zu den rückständigsten Regionen Indiens. Trockenheit und Wassermangel, eine zersplitterte Siedlungsstruktur und feudale Traditionen behindern die Entwicklung. Bis heute besuchen im Landesdurchschnitt weniger als 50 Prozent der Mädchen eine Grundschule.
UNICEF richtet in Rajasthan so genannten „alternativen Lernzentren“  ein, in denen Mädchen wie Congress Kanwar, unterrichtet werden. Allein in den vergangenen drei Jahren wurden 80 dieser so genannten „Prabhatshalas“ in abgelegenen Dörfern eröffnet. Hierzu wurden speziell weibliche Lehrkräfte ausgebildet und Lernutensilien bereitgestellt. Gleichzeitig wurden Eltern ermutigt, ihre Kinder zur Schule zu schicken.